KULTURELLE UNWÄGBARKEITEN #2

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Abendsonne auf der Wolga, Samara, Russland

In Russland werde ich als Frau ohne Umschweife nach meinen Lebensumständen gefragt. Oft in der ersten Stunde einer Begegnung und meistens von anderen oft älteren Frauen. „Was ist dein Beruf?“, „Bist du verheiratet?“, „Möchtest du irgendwann einmal heiraten?“, „Möchtest du Kinder haben, du kannst toll mit ihnen umgehen, du solltest sehr bald, nein sofort, Kinder bekommen!“, „Hast du einen Freund?“ und „Warum bist du in Russland?“

Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit, Sizran, Russland

Die meisten dieser Fragen kann ich nicht eindeutig beantworten. „Was ist dein Beruf?“ zum Beispiel, lässt mich bereits stolpern. Ich habe etwas studiert, aber damit arbeite ich nicht direkt. Gerade bin ich zwar als Lehrerin tätig (und ja, die Sprachen habe ich studiert), aber das bin ich nicht in Deutschland und werde es nie sein. Mein letzter Beruf war der einer Fotografin, aber das habe ich nicht studiert, sondern mir autodidaktisch selbst beigebracht. Vielleicht möchte ich diesen Beruf auch nicht mein Leben lang ausführen? Eigentlich bin ich alles zusammen, aber das ist auch ein bisschen viel. Und dass alles auf Russisch? Keine Chance.

Sommer in Samara, Russland

Dann gibt es die Fragen auf die ich am liebsten antworten würde: Das geht dich wirklich nichts an und warum sollte ich das bitte jetzt schon für den Rest meines Lebens entschieden haben? Das sind die Fragen die aus dem ersten Absatz noch übrig bleiben und oft antworte ich dann etwas irritiert: Nein, ich habe keinen Freund; und falls mein Gegenüber Deutsch oder Englisch spricht: ich weiß nicht ob ich irgendwann einmal heiraten möchte, gerade ist das keine Priorität, aber sie ändern sich ziemlich schnell bei mir. Wenn sie hören, dass ich keinen Freund habe, schauen sie mich oft verwundert an. Nur in einer Beziehung wird man ein ganzer Mensch. Diese Ansicht ist allerdings nicht typisch Russisch. Die ist typisch Welt.

In Russland sind dies die zentralen Fragen. Wenn sie das über mich wissen, können sie mich einordnen und ich werde Teil der Gemeinschaft. Es geht nicht eigentlich um die Antworten. (Was meiner Entrüstung die Luft aus den Segeln nimmt.) Auch das ist mir neu. In Deutschland ist das Stellen vieler dieser Fragen aufdringlich. Das sind Problematiken die wenn überhaupt in privatem Rahmen diskutiert werden. Es gibt einige Freundinnen von denen ich nicht weiß, ob sie jemals heiraten wollen, zum Beispiel... Ich weiß auch nicht, ob eine meiner Freundinnen entschieden hat, keine Kinder zu bekommen. Ich weiß, dass die meisten mit dem Gedanken spielen, aber wirklich ausgeschlossen hat es noch keine.

Diese Art der Antwort-Suche ist für mich typisch. Der Versuch wahrheitsgemäß zu antworten führt zu keiner Antwort. Alles bleibt in Wahrscheinlichkeiten hängen, ein Umstand den man hier nicht gewohnt ist. In Russland geht es nicht eigentlich darum absolut wahrheitsgemäß zu antworten. Allen ist klar, dass es keine absolute Sicherheit für irgendetwas gibt. Aber man positioniert sich halt in verschiedenen Lagern und schaut, wie weit man kommt. Deshalb gibt es fast immer eine absolute Antwort. Einfach, nicht? Es ist eine Tendenz, die tief in die russische Gesellschaft, die Geschichte und die Identität gewebt ist. Die Art und Weise wie historische Entwicklungen dargestellt werden, erinnert in einigen Aspekten daran. Es ist meist ein bestimmtes Datum andem sich die Dinge geändert haben. Zum Beispiel wurden die Bauern in Deutschland in einer Spanne von 100 Jahren befreit, in Rußland wurden die Bauern durch ein Gesetz freigegeben, das an einem bestimmten Tag im Jahre 1861 verabschiedet wurde.

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