ULJASPEA

English text
Herbststrauß vom Wegesrand, Estland

Am nächsten Morgen blieb ich im Bett. Der Raum hatte sich angenehm abgekühlt und ich verspürte überhaupt keine Lust dazu zu testen, ob das Wetter sich gehalten hatte oder nicht. Von dort aus sah ich eine dicke Wolkenschicht. Es war mal wieder kein Stück Himmel sichtbar. Ein wenig bereute ich, dass ich am vorherigen Abend nicht nochmal rausgegangen war, um den spektakulären Nachthimmel zu genießen. Nachdem ich vier weitere Stunden lesend und Tee trinkend im Bett verbracht hatte, beschloss ich, noch ein wenig weiterzuschreiben. Dann marschierte ich einen Kilometer Richtung Hafen, pflückte einen eklektischen kleinen Herbststrauß vom Wegesrand, ging im Mini Coop, dem Supermarkt im Dorf, einkaufen und kehrte nach drei Stunden Bewegung in mein AirBnB zurück.

Dort traf ich die Mutter meiner Gastgeberin dabei an, mein Feuer zu schüren. Dazu benutzte sie eine Zeitung vom 23. Januar 1987. (In einem Bildband über die Insel wurden diese alten Zeitungen immer wieder verwendet. Das scheint Tradition zu haben hier auf der Insel.) Daraufhin ging sie einige Male ein und aus, auch sie sprach Estnisch, Finnisch und Russisch sowie ein paar Brocken Deutsch. Die Verständigung war ein bisschen schwieriger, aber keinen Deut weniger herzlich. Als letzten Akt schenkte sie mir ein Glas mit klitzekleinen roten Beeren (ein bisschen sauer und bitter, von der Textur her eher mehlig, Preiselbeeren?), ein Glas Pflaumenmus und ein weiteres Früchtemus (beide hausgemacht) sowie ein kleines Deutsch-Estnisches Wörterbuch mit 30.000 Stichwörtern. Das erste Wort, auf welches mein Auge fiel, war „uljaspea“. Draufgänger. Das brachte mich zum Schmunzeln. Ich setzte einen Tee auf, arrangierte die Blumen, räumte die Einkäufe weg und kuschelte mich auf das Bett um zu schreiben.

Flackerndes Feuer, Estland

So verbrachte ich meinen restlichen Tag. Es war perfekt und unglaublich produktiv. Aus dieser Geborgenheit und erfüllt von dem Gefühl etwas geschafft zuhaben, begann ich mich mit den bereits hier anskizzierten Problemen und meiner etwas flapsig diagnostizierten Reisedepression auseinanderzusetzen. Mir wurde erst langsam bewusst, was in den letzten Wochen verkehrt gelaufen und warum ich desillusioniert und uninspiriert vor mich hin gedümpelt war. Ich hatte ursprünglich geplant, bereits in Litauen auf der ersten Farm zu Wwoofen (World Wide Opportunities on Organic Farms, man arbeitet dabei auf einem Bauernhof für Kost & Logis). Als das nicht klappte, ich meinen Geldbeutel verlor und mich erschöpft und ein wenig hilflos auf meine AirBnBs beschränkte, ging mir mein Narrativ flöten. Ich hatte eine Identitätskrise. Meine Erlebnisse waren viel intensiver als mir lieb war und ich hatte alle Hände voll damit zu tun, die banalsten Dinge zu organisieren. Meine Reise entwickelte sich zu einem Sightseeingtrip. Ich lief im Leerlauf und mit Scheuklappen im Kreis herum an immer neuen und fremden Orten. Zwangsläufig stand ich vor der Frage: was suche ich? Mir hat sich die Frage nie gestellt. Ich weiß genau, was ich suche. Das ist der Grund, warum ich mir in meiner Entscheidung für diese Reise so sicher war und bin. Bisher ist es mir jedoch nie gelungen, dafür eine Formulierung zu finden. Ich bin nicht eigentlich ein suchender Reisender. Ich suche weder Glück, noch Erfüllung oder den Sinn des Lebens. Ich möchte ein sammelnder Reisender sein. Ich sammle Perspektiven. Wie sieht die Welt aus, wenn man ein Leben in der Nähe des Polarkreises lebt, oder auf einer tropischen Insel? Wie sieht europäische Politik aus der Sicht der Bewohner Russlands, Kasachstans, Irans und Indiens aus? Ich suche einen Realitätsabgleich jenseits von Zahlen, Experten und Büchern. Wie sammelt man Perspektiven? Die Strategien, welche ich mir vor meiner Reise zurecht gelegt hatte, schienen keine Früchte zu tragen. Wenn ich einmal herausgefunden hatte, wie das ging, müsste ich entscheiden, auf welche Art und Weise ich Perspektiven für andere hier auf dem Blog lesbar machen könnte. Mit jedem Text den ich schrieb, setzte ich mein fragmentiertes Selbst ein kleines weiter Stück zusammen.

Rote Beeren, Estland

In meinem kleinen Dachboden auf der estnischen Insel war ich von einer Lösung dieser Problematik noch weit entfernt. Ich hatte aber ein Pflaster gefunden, welches meine unmittelbare Existenz erträglich machte und das Perpetuum mobile in meinem Kopf zum Halten brachte. Feuer und Schreiben. Alleine mit einer heißen Wärmequelle in die Nacht hinein tippen zu können, war himmlisch und schob die meisten meiner Probleme in den Hintergrund. Ich spürte, wie sich langsam eine Idee formte von einer möglichen Zukunft, von der idealen zeitlichen Aufteilung. Warum nicht? Wusste ich erst einmal, dass ich schreiben würde, konnte ich alles andere daran ausrichten. Schreiben und Fotografieren. Das Eine als Ausgleich für das Andere. Das wäre perfekt.

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Comments: 2
  • #1

    Kathi (Friday, 16 December 2016 23:01)

    liebste bella,
    hätte ich im literaturbetrieb mehr zu sagen, würde ich sofort ein buch mit deinen bildern und texten herausgeben! ich schaue jeden tag gespannt auf deinen blog und freue mich immer, etwas neues mitzuerleben! obwohl du so weit weg bist, habe ich das gefühl, viel mehr über dein leben und deine gedanken zu erfahren als früher. und natürlich erzähle ich auch jedem stolz, dass meine freundin bella die welt erkundet. fühl dich umarmt! kathi

  • #2

    Bella (Saturday, 17 December 2016 09:40)

    :-) Kathi, vielen Dank! Wärst du in einer Position das zu realisieren würde ich niemand anderes wählen. (Vielleicht wenn ich zurück komme? ;-) Du hast noch ein paar Jahre.) Heute Morgen einen Kommentar vorzufinden war ganz besonders wunderbar. Manchmal ist das timing einfach richtig. Danke dir. Und das mit dem mehr erfahren: ein weiteres Indiz welches ich in die Kategorie "born to write" schiebe. Gruß & Kuss