DIE LESENDE – GEDANKEN AUS KUALA LUMPUR

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Kuala Lumpur ist groß und unübersichtlich. Von der Bushaltestelle bis zu meinem Hostel steige ich in ein Taxi, welches ich mir mit einem Neuseeländer und zwei Briten, die in meinem Bus sitzen, teile. Das ist eine der Sachen, die ich inzwischen gelernt habe. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich die Touristen in ähnliche Ecken bewegen. Es lohnt sich immer, mal freundlich nachzufragen und meistens ist der Andere oder die Anderen sogar dankbar dafür, dass man sich traut. Was mir vor zwei Jahren noch eine Heidenangst eingejagt hat, ist heute das Leichteste von der Welt.

Ich erzähle nur selten von meiner Reise. Es kommt immer häufiger vor, das ich diese kleinen Wege inkognito hinter mich bringe. Mich interessiert viel mehr, was für Eindrücke andere Menschen sammeln, als meine immer und immer wieder zu verbreiten. Wenn ich anderen von meinem Reiseplan erzähle, ist das meistens nicht der Einstieg in Smalltalk. Es ist viel häufiger der Beginn eines zweistündigen Gesprächs, denn Hoffnungen wurden durch Gewissheiten ersetzt und meine Motivation mit Erschöpfung. Die Antworten sind nicht einfach, sie sind vielfältig, ausgewogen, durchdrungen von Erfahrung und Realität.

Mein Erleben ist schon seid Monaten dasselbe und es langweilt mich ein bisschen, da es so abgebrüht geworden ist. Was die anderen überwältigt, tangiert mich nur peripher. Für mich ist Kuala Lumpur eine Großstadt von vielen. Ich mache keine Couchsurfing, treffe keine Einheimischen und entscheide mich gegen die angepriesenen Sehenswürdigkeiten. Für mich ist es die richtige Entscheidung, aber Kuala Lumpur erlebe ich nicht.

Ich ziehe mich lieber in meinen fensterlosen Schlafsaal zurück und lese ein in der Lobby gefundenes deutschsprachiges Buch. Zu meiner Überraschung ist es sogar halbwegs gut geschrieben und ausgesprochen amüsant. Den Titel habe ich schon wieder vergessen, aber mit diesem Buch erwacht mein Lesehunger.

Am Anfang meiner Reise hatte ich vor, in jedem Land mindestens ein Buch von einem/r einheimischen Autor/in zu lesen. Das hat natürlich nicht geklappt. Aber immer wenn ich es doch mal schaffe wie in Indien und Nepal, eröffnen sich mir ganz neue Einblicke. Ich wünsche mir immer noch, dass ich es eines Tages schaffe, dieses Ziel einzuholen. Die Realität sieht anders aus. Lesen im Maß ist für mich nur bedingt realisierbar. Ich tendiere dazu in rasantem Tempo alles zu verschlingen, was nicht bis drei auf den Bäumen ist, bis meine Augen müde sind und mein Kopf Zuflucht in der Stille oder im Fernsehen nimmt.

Bei Rucksackreisen sind Bücher unangebracht, falls man nicht voraus denkt und sich einen Kindle zulegt. Am Anfang meines Abenteuers war ich zu sentimental. Mir gefiel der Gedanke, immer ein Buch in der Tasche zu tragen ausgesprochen gut (das tut er heute noch). Wenn man sein Haus jedoch auf dem Rücken trägt, wird aus einem Buch schnell zwei. Mir fällt es ausgesprochen schwer, einen Text der mich besonders berührt hat oder mich noch lange nach dem Lesen beschäftigt, zurückzulassen. Das passiert nicht häufig, aber zwischen den Büchern, die mich langweilen (von denen ich gerne hätte, dass sie meine Aufmerksamkeit fesseln) und denen, die mich faszinieren, gibt es einen stetigen Strom von Lektüren, die ich immer wieder zurücklasse. Inzwischen befinden sich jedoch statt einem, drei Bücher in meinem Rucksack. Eines trage ich seit dem Anfang meiner Reise mit mir herum. Ich kann mich einfach nicht dazu bringen den feministischen Sachtext aus den achtziger Jahren zu Ende zu lesen. Ich bin immer noch auf Seite 90. Das zweite Buch aus Indien, fasziniert mich so sehr, dass ich es am liebsten all meinen Freundinnen schenken will. An Wegwerfen ist nicht zu denken. Das dritte Buch, ist das, welches ich gerade lese, ein 1500-Seiten-Schinken. Eine kleine aber feine Kollektion, die meinem Rücken das Leben schwer macht.

Zu meiner Überraschung tut mir das eintauchen in eine deutsche Welt sehr gut. Anders als früher, vor meiner Reise, als ich zwischen den Seiten der Bücher nach der Welt und nach dem Abenteuer suchte, tut mir jetzt das Wiedererkennen gut. Die Lektüre ist wie eine Schablone, die mein Selbstbild gerade rückt. Solchermaßen gestärkt stolpere ich schließlich zum Flughafen und meiner vierten Reiseetappe entgegen.

 

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