VON POLEN NACH LITAUEN.

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Kapitel 1 lesen.

Dies ist Kapitel 2 von 4.

 

Ich hatte ausgerechnet, dass, wenn ich gegen 20 Uhr versuche einzuschlafen, ich immer noch auf meine 8 Stunden Schlaf kommen könnte. Mehr oder weniger ausgeschlafen würde ich also „Irgendwo“ sitzen. Das war schonmal besser als meine jetzige Situation; außerdem würde um 6 Uhr die Sonne aufgehen. Einmal im Land kommt man überall hin und bei Tageslicht erst recht. Essen würde ich dann dort auch finden. Ich war also ziemlich entspannt, oder eher angespannt-entspannt. Ein für mich neues Gefühl.

Die junge Lettin, M., fragte mich, wo ich hin wollte, warum ich reise, etc. und wir fingen ein sehr nettes Gespräch an. Studenten sind ähnlich wo auch immer man sie trifft. Es entsteht unglaublich schnell ein Vertrauensverhältnis, eine gemeinsame Basis. Wir tauschten Mailadressen aus (eine göttliche Fügung!!!), unterhielten uns über meine Visitenkarten, die sie mit professionellem Blick als schön einstufte (jeah! Sie war vom Fach) und tauschten uns über unsere Reisen aus. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich die Visitenkarten zur richtigen Zeit, am richtigen Ort hervor ziehen und sie jemandem, den ich nicht bereits kannte, in die Hand drücken. Sie war eine erfahrene Busreisende und reiste weiter nach Riga, hatte einmal eine Fernbeziehung nach Deutschland gehabt, sprach alle Sprachen, die ich nicht sprach und ziemlich perfektes Englisch. Ich war unglaublich erleichtert. Sie fragt nach meiner Route und versprach ihre Kontakte nach Estland spielen zu lassen, um mir eine Couch in Talinn zu organisieren. Denn „It's much nicer to stay with someone when that someone knows someone else that knows you as well.“ Eine Logik, der ich folgen konnte. Was mich an dieser Möglichkeit jedoch am meisten reizte, waren die zufälligen Verbindungen und Netzwerke, die sich dadurch erschlossen. Vor meinem inneren Auge sah ich ein Netzwerk von roten Linien, das sich um den Globus erstreckt. Es waren all die kleinen Verbindungen und Bekanntschaften, die einander kennen und füreinander aktiv werden, all die Möglichkeiten, die Geschichten, die Blickwinkel. All die kleinen verschiedenen Welten und Gesellschaften – die weitestgehend verschlossen nebeneinanderher leben und nur durch zufällige Bekanntschaften miteinander in Verbindung treten – bildeten das rote Netzwerk, welches gerade in meinem Kopf vibrierte.

Für einige Stunden war ich ganz bei mir, im Hier und Jetzt, versöhnt mit der Welt. Mein Vertrauen in den Weg (trust the road) war tief und ich fühlte mich sicher und geborgen. Die alten Damen, die vor mir saßen und sich bald über alle vier Sitze ihrer Reihe ausstreckten, in regelmäßigen Intervallen alle aufweckten, um aufs Klo zu gehen, unterhielten sich plätschernd. Sie rochen wie alte Frauen in Deutschland, ihre Proviantkörbe waren jedoch mindestens doppelt so groß. Ich freute mich auf das ausgiebige Frühstück, wenn ich „Irgendwo“ ankäme und trank einige Schlucke aus meiner Flasche. Zu meinem Erstaunen verteilt der Busfahrer 0,5 Liter Wasserflaschen an jeden, sodass mein Vorrat aufgefüllt werden konnte und ich auch am Morgen hydriert bleiben würde. Es waren die kleinen Dinge auf dieser Reise, die mich glücklich machten.

Auf dem Rücken liegend, über alle vier Sitze des Busses ausgestreckt (do like the locals do), fand ich einen tiefen und erholenden Schlaf. Aufgeweckt wurde ich nur dann, wenn eine der alten Ladies auf die Toilette ging. Dann starrte ich an die Decke des Busses, grübelte über das Design der Sitzbeleuchtung nach – war es Absicht, dass sie im Dunkel aussahen wie ein Pitbull? Ich versuchte es zu fotografieren, aber mein iPhone war nicht gut genug und meine große Kamera zu tief unter meinem Sitz. Außerdem schlief ich fast. Ich machte trotzdem ein iPhone-Foto (siehe oben), postete es (das Internet im Bus war vorzüglich) und hoffte dabei inständig dass meine Eltern bereits schlafen würden und NICHT live mitbekamen dass ich im Bus ins Nirgendwo saß. Schließlich mussten sie am nächsten Tag früh raus und brauchten ihren Schlaf. Ich wähnte mich in Sicherheit, da es bereits nach 22 Uhr war. Dann drehte ich mich auf die Seite und versuchte erneut zu schlafen. Nur für den Fall, packte ich mein Portmonee in die mit Reisverschluss verschließbare Tasche meines Fleeces und deckte mich mit meiner Überjacke zu. Es war kuschelig warm, am Busfenster flog ein wunderschöner Sternenhimmel an mir vorbei. Wir waren bereits „Irgendwo im Nirgendwo“ zwischen Polen und Litauen. Im Schlaf fanden meine Hände den Weg in meine Fleecetaschen und umschlossen mein Portmonee, alles war hier. Nichts vergessen, nichts verlegt. Es gab keine Probleme, die ich nicht alleine bewältigen konnte.

Das nächste Mal wurde ich vom Busfahrer geweckt, wir waren da. Eine Stunde früher als angekündigt, aber hier musste ich raus. Ich packte meinen Rucksack, schlüpfe hastig in meine Schuhe und stolperte aus dem warmen Bus in die kalte Nacht. Und dort stand ich dann. Aus dem Bus schauten mich die alten Damen, mit großen Augen an. Als könnten sie nicht verstehen, warum sich das eine junge Frau alleine antat. Eingemummelt in mein Fleece, meine Jacke und (zum ersten Mal auf der Reise) meinen selbst gestrickten Wollschlauchschal, zog ich meine Kopfhörer auf, meine Fleecekapuze drüber und setze mich auf eine Bank in die Dunkelheit.

 

(Die Geschichte geht weiter.)

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