DIE PROVINZ

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Samara, Russland

Die Fahrt mit dem Nachtzug verlief unkompliziert und friedlich. Ich teilte mir die Kabine mit einer Russin, die mich gutmütig unter ihre Fittiche nahm, sowie zwei Russen. Mir wurde mein Gepäck verstaut und durch Pantomime erklärt wie das hier funktionieren würde. Natürlich kam nur die Hälfte der Informationen bei mir an. So verstand ich zum Beispiel nicht, dass die Frauen im Abteil allein gelassen wurden, damit sie sich umziehen könnten. Später würden wir das Selbe für die Männer tun. Während ich noch darüber nachgrübelte, ob ich mein Gepäck mit den Männern in der Kabine allein lassen könnte, kam bereits der Schaffner und machte uns Frauen Beine. Er hat den Wagen fest im Griff, kommt Nachts herein um die Reisenden an den richtigen Bahnhöfen zu wecken und mit Tee aus bleiverzierten Glasbechern zu versorgen. Er weiß genau Bescheid und hat bereits einen Kommunikationsweg mit mir aufgebaut, indem er mir forsche Einwortsätze entgegenwirft. Meine Kabinenbegleiterin tut ihr Bestes, um mir diese Worte pantomimisch zu übersetzen und so wird Чай (Tee) mein erstes Russisches Wort.

Bereits eine Stunde vor meiner Ankunft liege ich immer noch wach im Bett und schaue angestrengt aus dem Fenster. Bin ich schon da? Wann würden die Städte kommen? Aus meinem kleinen Schlitz am oberen Rand des Fensters sehe ich nur Schnee, Büsche und Straßenlaternen die ihr Licht in gleichförmigen Streifen durch die vorbeifahrende Kabine werfen. Hier ist nichts. Noch nicht einmal Kleingartenanlagen. Keine Industrie. Nur die Schienen. Das kann Samara noch nicht sein. Das wandernde Licht in der Kabine und das rhythmische Zuckeln des Zuges sind Massage und Folter in einem. So komme ich nach einer langen, schlafarmen Nacht in Samara an und stolpere buchstäblich auf das Gleis, auf dem mich meine Gastgeber bereits erwarten.

Die schönsten Autos, Samara, Russland

A. und I. sind zwei dunkelhaarige Menschen mit offenen und freundlichen Gesichtern. Ihre Wangen sind von der Kälte gerötet und ihr Atem hängt in Rauchwölkchen in der Luft. I. spricht sogleich Englisch mit mir und ich bin froh erstmal kein Russisch pantomimisch darstellen zu müssen. Um mich herum ist alles fremd. Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieser Bahnhof zu einer Stadt führen soll. Von der Rückbank aus bekomme ich die ersten Eindrücke. Alles ist metertief in Schnee vergraben. Tiefe Fahrrinnen auf den Straßen machen das Autofahren zum Abenteuer. A. fährt uns ein wenig herum, während I. mir die wichtigsten Skulpturen, Denkmäler und Sehenswürdigkeiten erklärt. Ich habe keine Vorstellung, wie weit wir vom Stadtzentrum entfernt wohnen, als wir schließlich bei einem Reihenhaus halten und in die Garage hineinfahren.

Parade am Wahrzeichen der Stad, Samara, Russland.

Meine Entscheidung, nicht in Moskau oder St. Petersburg zu bleiben ist von ganz alleine gefallen. Ich fand die Familie in Samara online, hatte eine Skypeunterhaltung mit I. und ein wirklich gutes Bauchgefühl. Ich habe auf diesem Blog schon öfter davon erzählt, dass ich die Erfahrung gemacht habe, dass Hauptstädte oft die Situation im Rest des Landes nicht widerspiegeln. „Was genau erhoffst du dir von der russischen Provinz?“ War eine Frage die von zu Hause einige Male kam. Mir bietet die Provinz einen sicheren Hafen, ein spannendes Umfeld und neue Herausforderungen. In meinem Sprachgebrauch ist das Wort Provinz vor allem eine Abwertung. Es bezeichnet eine Gegend in der in kultureller, gesellschaftlicher Hinsicht wenig geboten wird. Im Fall von Samara könnte jedoch nichts ferner liegen. Es ist die sechstgrößte Stadt Russlands, hat eine Universität und verfügt über mehrere Theater. Hier ist die Provinz im altrömischen Sinne eine Provinz, weil sie nicht Rom/Moskau/St. Petersburg ist. Samara hat sogar eine U-Bahn (wenn auch nur eine Linie) und einen wilden Mix von Sehenswürdigkeiten. Hier gibt es Spuren reicher Kaufleute vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, einige wenige Adelspaläste derselben Zeit, Kirchen, sowie sowjetische und zeitgenössische Profanbauten. Die Stadt besteht in großen Teilen aus Hochhaussiedlungen. Es gibt neue Hochhäuser, deren Fassade im Sonnenlicht blitzt und alte, von deren Dächern große, gefährlich wirkende Eiszapfen hängen, deren Betonplatten unversiegelt den Gezeiten ausgesetzt sind und somit langsam das Zeitliche segnen.

Meine vier Wände, Samara, Russland

Ich habe mal wieder mehr Glück als Verstand und lebe nicht unweit der Wolga in einem neuen und großzügig geschnittenen Einfamilienhaus. Mir steht im Erdgeschoss eine kleine Einliegerwohnung zur Verfügung, die meine wildesten Träume übertrifft. Es gibt ein kleines Bad, eine Küchenzeile, einen Esstisch und ein Bettsofa. Ich kann zunächst kaum glauben wo ich hier gelandet bin. Das AuPair sieht in Russland in vielen Aspekten anders aus als in Finnland. Ich bin eher Privattutorin als Kindermädchen, was natürlich auch mit dem Alter der beiden Mädchen zusammenhängt. Die Bedürfnisse dieser Familie sind ganz andere und somit muss ich mir meine Rolle ganz neu ertasten.

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