DIE WOLGA

English text
Vom Stadtrand aus gesehen, Samara, Russland

… ist hier in Samara ein verdammt breiter Fluss. Ich erlebe sie noch zugefroren, so dass man ohne Probleme darüber wandern kann. Es dauert eineinhalb Stunden bevor wir auf der Insel ankommen werden, die vor der zweiten, der weit schmaleren Hälfte liegt. Der Weg ist eine täglich patrouillierte und gesicherte Straße über das Eis. Obwohl der Schnee platt gedrückt ist, versinken wir bis über die Knöchel im darauf liegenden Schnee. Nur Ева (Jewa), die Familienhündin, hat damit keine Probleme. Sie wälzt sich genüsslich im Schnee und versucht ihre Nase unter die weiße Decke zu schieben. Der graue Himmel, die klitzekleinen Schneeflocken und der eiskalte Wind setzen ihr nicht zu. Der Rest der Familie hat bereits alle Mützen, Handschuhe und Schals über die dem Wind ausgesetzten Hautzonen gezogen. Da wir in der Regel tun, was wir uns vornehmen, laufen wir schweigend bis zu der Insel auf der anderen Uferseite. Dort sehe ich den ersten Buntspecht der den Stamm einer Birke bearbeitet. Auch hier streckt der Frühling trotz Schneegestöbers seine Fühler aus. Die Insel ist ein Paradies für Jäger und Eisfischer, die uns zahlreich entgegenkommen. Alle sind eingepackt in Tarnkleidung, mit armeegrünen Rucksäcken ausgestattet und nicht selten Eisbohrern auf schlittenähnlichen Tragen, die sie hinter sich her ziehen. Da wir auf der Insel das Marschland und seine Bewohner bereits beobachten konnten und somit wussten was uns auf der anderen Seite des Ufers erwarten wird, entscheiden wir uns für einen heißen Tee zuhause. Der Rückweg würde auch so lange genug werden.

Cityskape von der Mitte der Wolga, Samara, Russland

Die Wolga ist der längste und wasserreichste Strom Europas. Im Winter ist er bedeckt von einer mehrere Zentimeter dicken Eisschicht und ist das Naherholungsgebiet dieser Stadt. Auf ihr wird Langlauf gefahren, gefischt, mit Hooverbooten über das Eis geglitten, mit Jetskis gerast, gelaufen und geschwommen. An den Hängen, die an einigen Stellen in den Fluss fallen wird Ski und Snowboard gefahren. Eigentlich ist das in der Stadt verboten und natürlich wird es trotzdem gemacht. Wir sind hier schließlich in Russland. Hier gibt es endlos viele Verbote und Regeln, die jeder, ganz individuell abwägt.

Drei Erbsen im Topf, Samara, Russland

Ich habe die Wolga sowohl in der Sonne, im Schneegestöber und von einer grauen Nebeldecke eingehüllt gesehen. Es ist faszinierend was für unterschiedliche Formen sie annehmen kann. An einem Tag wirkt sie fast wie ein See, der sich bis in die Weiten des gegenüberliegenden Gebirges ausbreitet, am nächsten wie ein schmaler Bach vor einer grauen Nebelwand die alle Geräusche verschluckt und dann wiederum wie ein Spiegel, der das Licht der Sonne in alle Richtungen wirft. Ich freue mich schon auf den Tag an dem das Eis vollständig aufbricht und ich das Wasser selbst sehen kann.

Ein Hooverboot auf der Wolga, bei Samara, Russland

Wieder einmal bin ich ein wenig überrascht mit was für einem Instinkt oder sagen wir besser Glück, ich den für mich richtigen Ort gefunden habe. Mütterchen Wolga, wie sie im Russischen Volksmund genannt wird, gilt als die Wiege der Russischen Kultur. An diesem reißenden Strom wurden Kriege geführt, Sagen gelebt, Heldengeschichten erkämpft und große Kunst gemacht. An jeder Ecke begegne ich Geschichten von weit gereisten Kaufleuten, suchenden Künstlern, verrückten Sagen und unbelegten Legenden. Ich habe bereits gelernt, dass das Beleglose zur Russischen Kultur dazu gehört. So viel wurde mit der Zeit verschleiert, so viel verheimlicht und geschönt, dass sich jede Art von Gerücht hartnäckig hält. Hier ist alles möglich. Jede Geschichte kann glaubhaft gemacht werden. Die Grauzonen empfinde ich als besonders spannend, vor allem da ich noch immer nicht lesen kann und auf die Übersetzungen meiner Mitstreiter angewiesen bin. Für mich ist alles eine Erzählung, noch kann ich keine Wahrscheinlichkeiten abwägen, nichts wirklich verorten, keine Normalität erkennen. Russland bleibt Mysterium. Es ist wie ein Puzzle, welches viel zu groß ist für meinen Kopf. Gerade bin ich an dem Punkt, an dem ich die ersten passenden Puzzleteile gefunden habe. Mit virtuell stolz geschwellter Brust fasse ich Zuversicht. Vielleicht kämpfe ich doch nicht auf verlorenem Posten.

An einigen Stellen beginnt das Eis zu brechen, Samara, Russland

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