GEFÄHRLICHES RUSSLAND

English text
Stromausfall bei Straßenbahnen im Aprilschneesturm, Samara, Russland

Eigentlich wollte ich über Pfannkuchen schreiben. Aber als ich heute morgen über die Straße lief, entschied ich mich anders.

Als Mitteleuropäer braucht man in Russland gehörig viel Mut, um an einem Zebrastreifen die Straße zu überqueren. Man kann den Zebrastreifen meistens an einem Straßenschild erkennen, welches an einer Lampe befestigt, in grell leuchtendem Blauton, auf die möglichen Gefahren aufmerksam macht. Die charakteristischen Zebrastreifen am Boden sind meist so verwittert und abgekratzt dass man sich ihrer Existenz nie ganz sicher sein kann. Ob die Autos tatsächlich halten werden, bleibt bis zum Schluss unklar. Frühzeitig langsamer, vorausschauend fahren und vorhersehbar agieren praktiziert hier jedenfalls keiner. Auch über die Straße gewunken oder per Augenkontakt signalisiert, wird hier nicht. Keine Chance. Jedes mal laufe ich auf den Zebrastreifen zu und sehe die viel zu schnell und nicht langsamer werdende Masse an Autos auf mich zu brausen. Das sind keine schicken Stadtflitzer, sondern russische Trucks, dicke Pickups und Vans. Wenn bei einem die Bremse nicht ganz hundertprozentig funktioniert war es das. Das Überraschende bei der ganzen Sache ist jedoch, dass die Autos immer vor dem Zebrastreifen stehen bleiben. So rücksichtslos und risikobereit die Russen auftreten, halten sie immer. Wartet man auf dem Gehweg, bis die Autos Anstalten machen zu bremsen, dann hält man den Verkehr einige Minuten länger auf als nötig und verursacht allgemeinen Unwillen, ähnlich einer Oma am Krückstock. Damit der Verkehr so flüssig wie möglich ist, muss man seinen inneren Schweinehund überwinden und auf die stark befahrene Straße treten. Nur dann verhält man sich „respektvoll“ im Straßenverkehr. Diese wenigen Sekunden fühlen sich für mich an, wie das Herunterspringen vom 10-meter-Brett als Elfjährige. Der Magen sinkt mir in die Knie und tausend Warnungen blinken und heulen in meinem Kopf. Wenn das erste Auto hält wird es besser, beim zweiten ebenfalls aber erst wenn ich auch über die dritte Spur drüber bin und auf dem Gehweg auf der anderen Seite ankomme, wird es leise in meinem Kopf.

Mein täglicher Zebrastreifen im Aprilschneesturm, Samara, Russland

Der Umgang mit Gefahren in Russland, ist geprägt von einer Risikobereitschaft, die ich so nicht kenne. Verboten werden Sachen erst, wenn mehrere Menschen daran zugrunde gegangen sind. Vor den fallenden Eiszapfen und den rutschenden Schneemassen, die teilweise zu Eisplatten geworden sind, wird gewarnt. Allerdings gibt es viele Hausbesitzer, die vor einigen Wochen eine Gruppe von Männern angeheuert haben um die Dächer von den Schneemassen zu befreien. Dafür wurde der Fußweg abgesperrt, damit der Schnee von den Dächern geschubst werden konnte. Es war ein Spektakel den Männern dabei zuzusehen, wie sie auf den maroden Dächern von alten Mehrfamilienhäusern herum balancierten und über den Rand in die Tiefe schauten. Natürlich alles ohne Sicherheitsvorkehrungen, Seilschaften oder ähnliches. Da man den Häusern nicht auf den Kopf schauen kann und somit nicht weiß, ob das Dach bereits geräumt wurde oder nicht, ist auch dass tagtäglich ein Abwägungsspiel. Es gab bereits die erste Tote in der Stadt, die von einer solchen Eismasse erschlagen wurde. Ich frage mich, wer trägt die Verantwortung, der Hausbesitzer oder die Fußgängerin? So wie ich Russland erlebe, nehme ich an, die Fußgängerin, aber ich weiß es nicht.

 

Die Gefahrenzonen sind endlos und wenn ich abwägen müsste, ob es wahrscheinlicher ist auf Eis hinzufallen, von einer Eismasse erschlagen oder von einem Auto überfahren zu werden, dann ist das Auto das wahrscheinlichste Mordinstrument. Jedoch erlebe ich das so nicht. Denn so oft wie ich mich vor Automassen werfe und immer gehalten wird, so abstrakt ist die Angst von einem Eiszapfen erschlagen zu werden. Beides ist real gefährlich. Jedoch muss ich beim Überqueren der Straße auf das Individuum am Steuer vertrauen. Als der Stärkere im Auto legen die Russen eine Fürsorglichkeit an den Tag, für den Schwächeren, die ich so nicht von ihnen erwarte. Das Vertrauen in den Einzelnen wird häufig belohnt. Ein Paradoxon welches mich etwas häufiger beschäftigt als Pfannkuchen und eines, welches mich auch weiterhin beschäftigen wird.

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Comments: 2
  • #1

    Christian (Wednesday, 05 April 2017 17:59)

    Den Pfannkuchen-Essay würde ich aber auch schon noch gerne lesen! Nicht dass der unter den Tisch fällt.

  • #2

    Bella (Wednesday, 05 April 2017 18:29)

    Ich behalte die Pfannkuchen im Auge. ;-)