JEREWAN

English text
"All about that bride", Blick auf Jerewan von der Cascade aus, Armenien

Mit Kopfhörern auf den Ohren bewege ich mich fortan durch Jerewan. Meist höre ich die Musik so laut, dass ich das Gehupe der Autos nicht hören kann. Das filtert einen unglaublich großen Stresspunkt heraus. Ich lerne, mich zielstrebig und sicher in der Stadt zu bewegen, springe von Maschrutka zu Maschrutka, fahre in die falschen Ecken, drehe wieder um. Ich folge meinem eigenen Kompass, frage so gut wie nicht nach dem Weg und lebe mit den daraus resultierenden Umwegen. Ich lerne, mich zwischen den Autos hindurch zu schlängeln, lerne wo ich hinschauen und worauf ich achten muss, bis ich auch ohne Musik auf den Ohren weiß, welche Geräusche ich ignorieren kann.

Stadtplan Jerewan, Armenien

Die pinke Stadt wird für mich ein ganz besonderer Ort. Ich bleibe hier zwei Wochen, treffe eine Reihe von unglaublich tollen Frauen, genieße das kultivierte Nachtleben, das leckere Essen und habe das große Glück bei der Schwester einer Freundin aus Moskau unterzukommen. Ich erlebe eine sehr christliche Gemeinschaft, die mich liebevoll aufnimmt und in ihren Alltag eingliedert, mich teilhaben lässt an ihrem Leben und mich umsorgt. Ich habe viel mit mir selbst zu tun und streife durch die Straßen dieser Stadt, viel mehr, als dass ich sie tatsächlich besichtige.

"Kitsch und Kram" Kunstmarkt in Jerewan, Armenien

Ich verbringe einen der schönsten Nachmittage mit zwei neuen Bekanntschaften. Die eine kommt aus Berlin, die andere aus Australien. Gemeinsam verquatschen wir den Tag im (meiner Meinung nach) schönsten Gartencafé Jerewans. Wir kämpfen alle mit den gleichen Dämonen, sprechen über das Schreiben, das Leben, die Kreativität, unsere Chancen, Träume und Wünsche. Wir definieren uns, weitab von Familie und Beziehung, sind auf der Suche nach Glück und Selbstverwirklichung ohne Selbstaufgabe. Wenn ich verunsichert und deprimiert bin, hilft mir nichts so viel, wie Gespräche mit anderen Frauen. Wir finden Gemeinsamkeiten in unseren Lebenszielen und Entscheidungen. Und ich habe ein neues, ein ganz konkretes Reiseziel. Eine weitere Tür zum Anklopfen in Sydney.

Historische Wandmalerei, Jerewan, Armenien

Mit gesenktem Kopf und offenen Händen stehe ich in der Mitte meiner Gastgeber. Von allen Seiten fühle ich Hände, an meinen Schultern, an meinem Rücken und an meinem Bauch. Gemeinsam beten wir dafür, dass die Sprache des Heiligen Geistes sich mir offenbart. Noch habe ich nicht voll verstanden, worum es hier geht. Seit Tagen sprechen wir immer wieder über Gott, wie ich bete und was ich dabei empfinde. Meine Gastgeber lesen täglich die Bibel, sie nehmen das geschriebene Wort wörtlich. Ich hingegen verstehe die Bibel als einen literarischen Text, der Historie schildert. Ich würde nie auf die Idee kommen, die Bibel wörtlich zu nehmen. So richtig schaffe ich nicht, mich verständlich zumachen, also lasse ich es geschehen. Bei ihnen ist das Beten nach Außen gerichtet. Man kann sie hören und sehen, wie sie in unverständlichen Zungen Erleichterung finden. Es ist ganz anders, als das Beten wie ich es kenne. Sie sind sehr sicher in ihrem Glauben und wie dieser zu Leben ist. Die Kirche, der sie angehören, existiert genauso im Rest der Welt. Nur mir ist sie noch nie untergekommen. Auch darum gehe ich auf Reisen. Es gibt Dinge, denen ich zu Hause nicht begegne. Paralleluniversen sind schwer wahrzunehmen. Von innen gesehen relativiert sich vieles. Diese Begegnung erlaubt mir ganz frei von vorgefertigten Meinungen einzutauchen in diese tief christliche, manchmal etwas einschüchternde Weltsicht.

Geburtstagsblumen, Jerewan, Armenien

In Yerewan werde ich 29 Jahre alt. Meinen 28ten Geburtstag habe ich in Gdanzig verbracht. Dort hatte ich meinen Gastgebern nichts davon erzählt, wollte nicht, dass sie sich Mühe machen und versuchen, mich in irgendeiner Form zu zelebrieren. Nichts wäre mir unangenehmer. Doch letztes Jahr hatten sie es auf meinem Computer gesehen und doch noch eine kleine Geburtstagsfeier organisiert. Aus dieser Situation hatte ich gelernt. In Yerewan erzählte ich meinen Gastgebern im Vorhinein das ich Geburtstag haben würde und gab gleichzeitig die Anweisung kein Aufhebens darum zu machen. Natürlich vergeblich. Um Mitternacht wurde ich aus dem Bett geklopft und mit einer super leckeren Torte mit Tischfeuerwerk und den international üblichen Geburtstagsliedern in mein neues Lebensjahr begleitet. Ein riesiger Strauß Blumen stand auf dem Tisch. Es war eine besondere Nacht und seit langem hat mich nichts mehr so berührt, wie diese Geste der Fürsorge meiner Gastgeber.

Lebenselexier Wasser und der Sonnenuntergang, Jerewan, Armenien

Auch in Jerewan treffe ich R. aus Alawerdi. Sie kommt häufig an Wochenenden in die Metropole, um ihrer Kleinstadt zu entfliehen. Ich komme nicht umhin, ihr Durchhaltevermögen zu bewundern. Ich bin so unglaublich froh, weiterreisen zu können (ich hatte keine Ahnung das es noch deutlich schlimmer werden würde) und die Vorstellung, noch vier weitere Monate in diesem Land und vor allem in der Provinz zu leben, jagd mir Schauer über den Rücken. R. ist für mich wichtiger Referenzpunkt und weise Stichwortgeberin. Sie weiß so viel mehr über das Land und hat gleichzeitig (als polnische Litauerin oder litauische Polin, die Details vermischen sich in meinem Kopf) so viel mehr Geduld und Erfahrung mit ignoranten Machomännern oder – respektvoller ausgedrückt – mit traditionellen Rollenbildern. Eine Lösung hat sie natürlich auch nicht, aber sie ist der Grund dafür, dass ich Armenien immer wieder neue Chancen geben konnte. Begegnungen wie diese kann man nicht planen. Sie kommen und gehen und sie sind das Schönste was das Alleinereisen mit sich bringt.

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