GDANSK

English text
Reflektion des Riesenrads in Gdansk

In Swinouscjie stieg ich in den Zug nach Gdansk. Ich fuhr in Küstennähe einmal quer durch Polen. Ich wusste, dass ich hier eine ganze Menge verpasste. Ich hatte jedoch das Gefühl, jederzeit nach Polen reisen zu können, auch wenn ich älter sein würde, Kinder hätte oder anderweitig eingeschränkt wäre. Ein wenig merkwürdig war diese Überzeugung schon. Schließlich war dies das erste Mal, dass ich unser Nachbarland besuchte. Es war wunderschön und voller Wald. Der Zug war unglaublich günstig, schnell und bequem. Die Bahnhöfe waren entweder sowjetisch, wie es sie auch in Ostdeutschland gibt, oder aus Holz geschnitzt. Sie waren auf alt gemacht, jedoch meistens blitzneu. Man bekam ein Gefühl dafür, wie es früher gewesen sein musste.

Meine Gastgeber

Über das Internet hatte ich mit einer jungen Polin ausgemacht, dass ich für das Wochenende bei ihr unterkommen würde. Sie und ihr Freund leben etwas außerhalb, jedoch in einer schönen kleinen Wohnung. Sie hatte bereits viele positive Bewertungen und hatte eingewilligt mich auf ihrer Couch übernachten zu lassen. Als ich ankam, stand ich vor einem nigelnagelneuen Wohnkomplex, der mit einem Zaun gesichert und nur mit Passwort zugänglich war. E. kam herunter und führte mich hoch. Sie war sehr jung, es herrschte sofort eine Vertrautheit zwischen uns, wie ich sie nur von guten Freunden zu Hause kannte. Bei uns beiden traf der Couchsurfing-Spruch zu: You have friends everywhere, you just don't know them yet. Sie war noch nicht einmal fünfundzwanzig, lebte jedoch bereits mit ihrem zukünftigen Ehemann in einer Eigentumswohnung, arbeitete und studierte gleichzeitig. B., ihr Verlobter, war etwas älter, ihm gehörte die Wohnung. Er war ein ruhiger und freundlicher junger Mann. Sie zeigten mir, wo alles war, ich richtete mich ein und wir setzen uns hin. Sie wärmten das Mittagessen für mich auf und gesellten sich zum Essen zu mir. Es war super schön mal wieder etwas Warmes zu essen. Gemeinsam machten wir Pläne für das Wochenende. Am Abend hatten sie vor, E.'s Schwester und ihr Baby zu besuchen. Da ich das Gefühl hatte, dass es nicht schlimm wäre, wenn ich stattdessen die Stadt erkundete, machten wir aus, uns um 21 Uhr im Zentrum zu treffen. Die beiden hatten ein straffes Programm. Am Sonntag Morgen sollte es in die Kirche gehen. Zu Beginn war ich etwas zögerlich, ich hatte bereits Horrorgeschichten über polnische Gottesdienste gehört. Am späteren Abend und nach ein paar Bieren stimmte ich jedoch zu. Am Sonntagnachmittag war ein großes Mittagessen geplant, alles war bereits dafür eingekauft und nachmittags wollten wir nach Gdynia fahren, einem der schönsten Orte in der Region. Am Montag würden beide arbeiten müssen und ich würde Zeit haben, mir die Stadt anzusehen oder Orgazeug für die Reise zu erledigen. Ich entschied mich natürlich für Zweiteres. Es gab so viel zu tun.

Neptunes Brunnen in Gdansk

Der Stadtkern von Gdansk war wunderschön. Die alten Häuser (alles wieder aufgebaut) hatten einen hanseatischen Charme und der rote Stein strahlte im Kontrast zu dem hellblauen Abendhimmel. Meine Fotos fingen diesen Gegensatz nur schwer ein. Die Straßen waren voll mit Touristen. Die meisten davon große und oft dicke betrunkene Deutsche. Ich fühlte mich seltsam zwischen diesen Haudegen. Neben den Touristen und den typischen und allgegenwärtigen Tourifallen waren vereinzelte exzellente Straßenmusiker unterwegs und verliebte Pärchen jeden Alters. Zum ersten Mal sah ich einen „stoop“ außerhalb Amerikas. Ich war noch nie dort, aber aus Filmen kenne ich die Treppenaufgänge in Manhattan ziemlich gut, auf denen viele Filmcharaktere (von Carrie in „Sex and the City“ bis Lena in „Girls“) ihre Tränen vergießen. Auf jeden Fall hatten diese Gdansker „stoops“ denen aus Manhattan einiges voraus. Die Proportionen waren schon fast komisch. Die Aufgänge wirkten massiv vor den kleinen und oft sehr schmalen alten Häusern.

Später traf ich mich mit E. und B. und trank zum ersten Mal in meinem Leben Bananenbier. Ja. Ihr habt richtig gehört. Bier mit einer zerquetschten Banane. I'll try anything once! Hier erklärte mir E., was Frauen in ihrem Umfeld trinken: Bier immer gemischt mit Sirup oder Bananen. Pures Bier wäre etwas sehr Männliches.Ganz generell waren die Geschlechterrollen hier viel traditioneller. Aus Zufall hatte ich erst kurz zuvor einen Artikel über Feminismus in Polen gelesen und fand es daher ziemlich spannend zu sehen, vor was für einem Hintergrund dieser agierte. Über mein Alleinreisen und meine feministischen Ansichten waren die beiden etwas erstaunt. Zum ersten (jedoch nicht letzten) Mal wurde ich davor gewarnt, wie ein Mann zu werden. (Eine Sorge die ich bei aller Unsicherheit nicht Teile.) Nur nicht zu viel Unabhängigkeit. Es spricht für diese Begegnung, dass wir trotz unserer sehr verschiedenen Lebensentwürfe Freude daran empfanden, uns auszutauschen. Nach unserer ausgiebigen Bierrunde sprangen wir in den Bus. Zu Hause wurde noch eine Packung Cheetos, Wodka und Kirschschnaps auf den Tisch gestellt. So leicht würde ich nicht davon kommen! Der Kirschschnaps war hausgebrannt. Ich wurde eingeführt in das rituelle Wodka trinken. Die Reihenfolge und die Bedeutung der Trinksprüche, die gesamte Etikette dieses Gelages, war ziemlich ausgefuchst. Ich war inzwischen so müde, dass mir das Englischsprechen nicht mehr leicht fiel. Der Alkohol gab mir so ziemlich den Rest, trotzdem (und darauf bin ich ein bisschen stolz) schaffte ich es, einen metaphernreichen Trinkspruch auf die Kirschen im Leben zu formulieren. (E. und ich tranken inzwischen den Kirschschnaps, B. blieb männlich). Als der Kirschschnaps leer war, nahmen wir das als Impuls schlafen zu gehen...

Write a comment

Comments: 4
  • #1

    Christian (Thursday, 03 November 2016 19:11)

    Dieses quallenartige Riesenradfoto fasziniert mich. Und bye the way: Eine Banane zu zerquetschen kann durchaus feministische Symbolkraft besitzen!

  • #2

    Bella (Thursday, 03 November 2016 19:50)

    Lieber Christian, da würde ich dir glatt widersprechen. Wo kämen wir hin, wenn wir Reihenweise Bananen schreddern würden. Wenn auch nur symbolisch... Und wenn man das zu Ende denkt, was ein Festschmaus..? Brrr..! ;-)

  • #3

    Christian (Thursday, 03 November 2016 20:37)

    Darauf ein Bier! (pur)
    ;-)

  • #4

    Alla (Thursday, 01 December 2016 11:20)

    Fantastisches Riesenrad-Foto!! Habe minutenlange wie hypnotisiert darauf starren müssen...